Quelle: Helga Haeberlin, erstmals veröffentlicht 1994 in der Festschrift zum 675-jährigen Jubiläum der Gemeinde, www.spiekershausen.de
Ein Übergang besonderer Art über die Fulda entstand Mitte des vorigen Jahrhunderts. Er brachte Leben und Arbeitsmöglichkeiten für die Dorfbewohner. Ich spreche von der Eröffnung der Eisenbahnlinie zwischen Kassel und Hannoversch Münden, der so genannten Hannoverschen Südbahn, am 23. September 1856.
Die Entstehung und Beschaffenheit dieser Eisenbahnbrücke über die Fulda schilderte mirdie Pressestelle der Deutschen Bundesbahn in einem Brief vom 21.2.1979:
„Die alte und erste Fuldabrücke Kragenhof wurde in den Jahren 1853 bis 1855 fertig gestellt und am 29. September feierlich der Schlussstein gesetzt. Bauherr war die Königliche Eisenbahn-Direktion Hannover. Die ursprüngliche Bauart war eine gewölbte Brücke mit fünf Öffnungen aus Werksteinmauerwerk mit einer Gesamtlänge von 120 m zwischen den Widerlagern.
Die Brücke wurde im April 1945 gesprengt. US-Truppen bauten im August 1945 auf den vorhandenen Pfeilerstümpfen des alten Bauwerkes eine stählerne Behelfsbrücke, die bis 1947 in Betrieb war
Von 1947 – 1949 wurde unter Aufsicht der Bundesbahndirektion Kassel das neue Brückenbauwerk errichtet und zwar als stählerne Fachwerkbrücke. Vom ursprünglichen Bauwerk wurden lediglich die beiden Sandsteinwiderlager wieder verwendet. Die noch vorhandenen Pfeilerstümpfe wurden damals bis 50 cm unter dem Grund der Fulda abgebrochen. Als Ersatz wurden zwei neue aus Stahlbeton mit Sandsteinverblendung errichtet.“
Neben dem Material für die eigentliche Brücke war eine gewaltige Masse von Sandsteinen zur Befestigung der Ufer und Waldhänge erforderlich. Diese Steine wurden rechts und links des „Kragenhorstes“ gebrochen, sicherlich nicht ohne Beteiligung von örtlichen Fuhrleuten und Arbeitern.
Nicht viel hätte gefehlt, so wäre dieses stolze von Ingenieur Heyken errichtete Bauwerk ein Opfer schon des Krieges von 1866 geworden, wie das MündenerTageblattvom 5.1.1899 berichtet:
„Am 18. Juni 1866 kamen 50 Pioniere von der hannoverschen Armee durch die hiesige Gegend, um alles das zu beseitigen, was das Vorrücken der Preußen beschleunigen könnte.
Zunächst wollte man die Eisenbahn Münden – Cassel beschädigen, damit die feindlichen Truppen auf dieser nicht befördert werden könnten. Der die Pioniere befehlende Hauptmann Götze hatte auch zugleich den Auftrag erhalten, nach Ermessen die Brücken zu sprengen. Die eiserne Brücke oberhalb Bonaforts verfiel ihrem Schicksal, doch mochte die bei Kragenhof dem Hauptmann Leid tun. Man begnügte sich damit, dass man die Schienen und Schwellen aufriss und in die Fulda warf. Dazu wurden auch viele Bewohner aus den umliegenden Ortschaften beordert. Es war gerade am Sonntag, den 24. Juni, und diese in den Kirchen versammelt, als der Befehl einlief, sofort zu kommen und zu helfen. Die Geistlichen entließen daraufhin die männlichen Mitglieder der Gemeinde, um nach dem Kragenhof eilen zu können. Die Durchfahrt für die Eisenbahn ward in kurzer Zeit wieder hergestellt, und so steht der stolze Bau noch heute …, Wind, Hochwasser und Eisgang trotzend. Von der Brücke hat man eine herrliche Aussicht auf einen Teil des lieblichen Fuldatales.“
Gleichzeitig mit der Bahnstrecke und der Brücke ist der Bahnhof Kragenhof entstanden. ,Schon lange nicht mehr ertönt das Lautesignal beim Schließen der Schranke, weiß Herr Heinrich Keßler zu berichten für die HNA vom 4.1.1990. Er hat 18 Jahre lang von 1954 bis 1972 seinen Dienst im kleinen Bahnhof an der Fulda entlang der Strecke Kassel – Göttingen – Eichenberg versehen. Zusammen mit zwei Kollegen verkaufte er Fahrkarten, nahm Stück und Expressgut entgegen, bediente die Schranken und das mechanische Stellwerk. Eine Arbeit, die ihm Spaß machte. Er erinnert sich an die Bauern aus der Umgebung, die mit ihren Fuhrwerken nach Kragenhof kamen, um Dünger, Küken oder Ferkel abzuholen.
Kragenhof, zusammen mit Niedervellmar und Speele zur Dienststelle Ihringshausen gehörig, hatte seinerzeit eine zentrale Lage für die Orte im Obergericht. Aber nicht nur Landwehrhäger und Spiekershäuser marschierten frühmorgens zum Bahnhof, um von dort nach Kassel oder Münden zur Arbeit oder zur Schule zu fahren, auch Bewohner von der anderen Seite der Fulda machten sich auf Schusters Rappen auf zum Zug. Mit der Fähre bei Wahnhausen oder der „Grauen Katze“ überquerten sie die Fulda, und dann ging’s über das .“Große Holz“ hinauf zu Fuß zur Station.
Da sich in den 50er und 60er-Jahren nur wenige den Luxus eines eigenen Autos leisten konnten, war der Zug das wichtigste Verkehrsmittel. Die Abteile waren voll, der Schaffner hatte genug Karten zu knipsen.
Bis 1955 gab es im Bahnhof Kragenhof sogar eine Gastwirtschaft mit Kaffeegarten. Der letzte Gastwirt war Herr Willi Reinhardt aus Spiekershausen, der im Rahmen der Notverordnung von 1923 arbeitslos wurde und seinen Beruf als Lokführer verlor. Er übernahm das Bahnhofslokal, das seine Mutter, die allseits bekannte Witwe Reinhardt bis dahin geführt hatte. Willi Reinhardts Ehefrau, die die Post in dem Haus hinter dem Bahnhof führte, hat ihn überlebt und wohnte bis zu ihrem Ende in einem der 3 Landhäuser in der Fuldaaue (jetzt Nr. 17).
Reger Ausflugsverkehr herrschte damals an Wochenenden, wenn die Kasseler Ausflügler mit dem Dampfer „Elsa“ auf der Fulda bis Spiekershausen kamen und dann im Bahnhofslokal einkehrten, um von dort mit dem Zug wieder nach Kassel zu fahren. Sogar in Rothwesten stationierte amerikanische Soldaten seien dort öfters eingekehrt.
Doch zurück zum Bericht von Heinrich Keßler: Das Rattern der Dampfloks war für ihn ein vertrautes Geräusch, das ihm keineswegs den Schlaf raubte. Er und seine Familie waren daran gewöhnt. Schließlich wohnten sie in den ersten Jahren von 1954 – 58 im Streckenhaus, direkt gegenüber von Wahnhausen; später von 1958 – 67 im 1. Stock des Bahnhofsgebäudes und von 1967 – 73 im Haus rechts vom Bahnhof, in dem früher der Wirt des Bahnhofsrestaurants wohnte.
1964 mit der Elektrifizierung der Linie verschwanden die Dampfloks und in Kragenhof zog der so genannte Fortschritt ein. Stellwerke wurden nicht mehr per Hand, sondern automatisch bedient. Rationalisierung war angesagt. So langsam aber sicher verlor die Eisenbahn ihre Kundschaft. Viele stiegen notgedrungen auf das Auto um, denn das Zugangebot wurde trotz heftiger Proteste von Bevölkerung und Verwaltung immer spärlicher.
1974 wird der Dienst im Bahnhof eingestellt. Das Bahnhofsgebäude verwaist. Es gibt keinen Schalter mehr. Das Personal wechselt nach Münden oder Kassel; so auch Herr Keßler. 1981 verschwinden die beschrankten Bahnübergänge. Ein- und Ausstieg erfolgen über einen 1983 neu angelegten Weg und eine Brücke, der schon im Dezember 1979 neben anderen Gehölzen eine rund 170 Jahre alte Eiche weichen musste. Die Fahrkartenausgabe übernimmt ein Automat, aber auch das nicht lange, denn es hielt bald kein einziger Zug mehr in Kragenhof!
Spiekershausen fühlt sich von der Welt abgeschnitten und im Stich gelassen. Forderungen nach einer Busanbindung werden nur zögernd berücksichtigt, teilweise seit Juni 1987 ergänzt durch ein neues Verkehrssystem, das Anruf-Sammeltaxi, kurz „AST“.
Und – der „Fortschritt“ ist nicht aufzuhalten. Schon 1977 finden erste Diskussionen über die neue Schnellbahntrasse Hannover-Würzburg statt:
„Wir Spiekershauser haben von der Trasse nur Nachteile, fasst ein verärgerter Bürger des Ortes anlässlich einer Versammlung mit der Bundesbahn die entstehende Situation zusammen. Die zu erwartende Belästigung durch Baularm und Züge (man spricht von 138 Reise-, Güter- und Expresszügen innerhalb von 24 Stunden (HNA 21.7.1991) macht den Anwohnern größte Sorge. 1981 wird die geplante zweite Brücke über die Fulda vorgestellt. Sie führt ohne Mittelstütze in einer Spannweite von 249 Metern als Fachwerkverbundbau ca.100 Meter südlich der jetzigen Brücke über den Fluss.
Im Mai 1981 verschwindet ein romantisches Bauwerk aus dem vorigen Jahrhundert: der schöne Fachwerkbahnhof Kragenhof fällt dem Bagger zum Opfer und ist nur noch ein trauriger Trümmerhaufen …
Am 27. Oktober 1983 werden mit dem Anschlag des Mündener und des Mühlenkopftunnels die Bauarbeiten der Neubaustrecke Hannover-Würzburg zwischen Göttingen und Kassel offiziell eingeleitet. Die Tunnelweihe nehmen vor Pfarrer Hübner, Hannoversch Münden, und Pastor Schäfer, Landwehrhagen. Taufpatin für den Mühlenkopftunnel ist die Ehefrau des Landrats Willi Döring, Frau Annemarie Döring. Es wird je eine hölzerne Statue der heiligen Barbara in den Stolleneingängen aufgestellt um den Bergleuten symbolisch Schutz für ihre Arbeit zu erbitten. Vorstandsmitglied der Bundesbahn, Wilhelm Pällmann, machte darauf aufmerksam, dass die Bahn rund 100Jahre lang keine neuen Fernstrecken gebaut habe. Er wurde unterstützt von Ministerpräsident Albrecht. Die Bahn wolle allerdings nicht so viele Streckenkilometer bauen wie in den vergangenen 20 Jahren auf dem Straßensektor. Es seien 150.000 km Fernstraßen neu gebaut worden, die Bahn plane lediglich 400 km Neubaustrecke zwischen Hannover – Würzburg, Stuttgart – Mannheim. Landrat Willi Döring äußerte sich in Versen: „Was hier geschieht, ist wohl getan, Glück-auf für uns’re Bundesbahn“.
Gleichzeitig mit den Bundesbahn-Baumaßnahmen soll auch die Kreisstraße 214 verlegt und auf eine Breite von 5,50Meter ausgebaut werden. Unterhalb dieser neuen Straße soll der Mühlenkopftunnel zum Vorschein kommen, dessen Abraum von 650.000 Kubikmeter, der zusammen mit dem Lutterberg-Tunnel anfallen wird, zur Auffüllung des Ickelsbachtales verwendet wird.
Im November 1986 beginnt der Baudonner! Mit 40 Schlägen in der Minute in der Zeit von 7 bis 18 Uhr und einer Lautstärke von 100 bis 105 Dezibel, also im 1 1/2 Sekunden-Takt, werden die Spundwände für die Betonpfeiler der neuen Brücke mit einem 80-Tonnen-Rammbar 14 Meter tief in die Erde getrieben. „Das haut rein, und entgegen den Erwartungen der Spiekershäuser wird nicht an den drei (ursprünglich sollten es auch nur zwei sein) Pfeilern gleichzeitig, sondern nacheinander gebaut.“ Das ist für die damals 73-jährige „Tante Lisbeth“ Kropf nicht zu ertragen. In ihrem nur 50 Meter von der Baustelle entfernt liegenden Holzhäuschen wackeln die Wände. Doch die Baufirma Wayss & Freytag hat ein Einsehen. Tante Lisbeth darf „Urlaub vom Lärm“ machen auf Kosten der Firma – versteht sich! Schließlich handelt es sich hier um ein Bauwerk mit einem Kostenvolumen von 15 bis 18 Millionen DM. Sie fährt zu ihrer Tochter nach München und erhält pro Tag etwa 50 DM, allerdings „ohne rechtliche Verpflichtung“, wie der Oberbauleiter ausdrücklich betont.
Nach rund 2-jähriger Bauzeit ist im Dezember 1988 die Kragenhöfer Talbrücke der Schnellbahntrasse fertig. Mit 250 Metern überspannt sie – allerdings auf drei Pfeilern – die Fulda und ist die einzige auf der Neubaustrecke Hannover – Würzburg, die als Stahlfachwerk, verbunden mit einer Stahlbeton-Fahrbahnplatte konstruiert wurde. Sie musste im Test 1.300 Tonnen standhalten und ist das Modell derzukunft, weil sie weniger Larm verursacht als Bauwerke aus Beton und weil sie wirtschaftlicher sei, da die Stahlteile schon vorgefertigt werden können.
Im Januar 1991 rast der erste Test-ICE über die Strecke in den Tunnel. Am 2 Juni 1991 beginnt das Hochgeschwindigkeitszeitalter des InterCity-Express (Die ersten 41 Züge kosten 2 Milliarden DM … !).
Wie der Mensch im Allgemeinen, so haben sich auch die Spiekershäuser an die Veränderungen gewöhnt. Aber sicherlich fragt sich doch mancher, was er,im Kleinen oft davon hat? Die alte Bahnstrecke bleibt zwar bestehen, für den Nahverkehr, wie es heißt, aber in Kragenhof rauschen alle Züge vorbei. Selbst der Wunsch nach einem Fußgänger- und Radfahrerübergang unter der neuen Brücke, der seit März 1989 im Gespräch war, ist bis heute nur ein Traum geblieben, obwohl für Wartungsarbeiten bereits ein Bedienungssteg in die Stahlfachwerkkonstruktion eingebaut war.