Einen anschaulichen Bericht über die Wohn- und Lebensverhaltnisse der Menschen vor 150 Jahren gibt Adelheid Schlaefke in ihrer Examensarbeit:
„Zur damaligen Zeit sind noch alle Häuser im Stil des Hessischen Einhauses Fachwerkbauten (hier leider verputzt). Obwohl kein einziges Bauernhaus im unverfälschten baulichen Bestand des Mittelalters erhalten ist, müssen wir die Entwicklung dieser Hausart dennoch dem Mittelalter zuteilen.
Sie hat ohne grundsätzliche Veränderungen die folgenden Jahrhunderte überdauert und sich teilweise bis auf den heutigen Tag lebendig im Gebrauch erhalten.
Der Ober- und Mitteldeutsche trennt Wirtschaft und Wohnung grundsätzlich bis zur Auflösung des Gehöftes in lauter Einzelbauten. Die Ausbildung des oberdeutschen Hauses bestand in der Teilung und Mehrung des Grundrisses bei vielleicht schon frühzeitigerAufnahme des Stockwerkbaues. So ist die Abzweigung der Wirtschaftsgebäude von den Wohnhausern der größeren Bauernhöfe in jenen Jahren zu verstehen.
Neben Bauart und Hauseinteilung zeigt die Benutzung und Einrichtung der Räume die Lebenshaltung der Bewohner. Trotz der Unterschiede, die sich zwischen der Haushaltung Wohlhabenderer oder Minderbegüteter im Dorfe fanden, möchte ich versuchen, ein allgemeines Bild von der überall wartenden Sparsamkeit, die eine gewisse Gediegenheit nicht ausschloss, aufzuzeigen.
Die Stube war der größte Wohnraum; denn in ihr hielt sich die ganze Familie insbesondere während des Winters auf. Die Möbel waren von bäuerlich-handwerklicher Beschaffenheit. Unter den Fenstern stand eine lange Bank an der Wand, davor ein großer Tisch und rundherum Stühle mit runden, geschnitzten Lehnen und Schemel. An der gegenüberliegenden Wand stand die Truhe des Hauses, Koffer genannt, die ebenfalls mit Schnitzerei verziert war. In ihr bewahrte die Hausfrau die Wäsche auf. Oftmals stand auch noch ein großer Schrank in der Stube, der neben der Truhe das schönste Möbelstück des Hauses darstellte. Er war sehr sorgsam geschnitzt; in ihm hingen die Kleider. Die Wände der Stube waren gestrichen und trugen eine schmale Schablonenborte. Die Fenster waren ziemlich klein. Zur Erwärmung des niedrigen Raumes war der Herd von der Küche durch die Wand in die Stube gebaut wurde von der Küche aus geheizt, und daher war kein Rauchabzug in der Stube nötig.
Die Küche war im Vergleich zur Stube etwa halb so groß, denn sie diente nur zum Kochen. In der Ecke befand sich ein aus Backsteinen gemauerter Herd mit einer Eisenplatte. Über dem Herd führte ein offener Schornstein nach oben, daher war es bei Wind leicht rauchig in der Küche. Unter dem Fenster stand auch hier eine Bank, davor ein Tisch, nicht größer als er gerade zum Wirtschaften nötig war. An den Wänden, die ähnlich wie die der Stube gestrichen waren, hingen Borte, sog.Anrichten, mit Tellern und sonstigem Geschirr. Der Küchenschrank bewahrte Nahrungsmittel, große „Essnäpfe“,“Kumpen“ und Krüge. Sie waren aus gebranntem Ton, wie sie die Nienhagener jedes Frühjahr in allen Dörfern anboten.
Die Kammer war ein ganz kleiner Raum, die Betten darin aber so breit und groß, dass oft kein Platz mehr für den Schrank da war. Kleine Tischchen und ein paar Stühle bildeten das übrige Mobiliar. Aber auch hier war jedes Stück mit geschnitzten Verzierungen versehen.
Die Arbeit der Bauern war weit schwieriger und langsamer zu bewältigen als heute, obwohl viel mehr Menschen dabei tätig waren, ja auch die Kinder tüchtig helf en mussten. Unter vielen anderen mir genannten Beispielen möchte ich nur zwei herausgreifen: Die Drescherei, die heute in wenigen Tagen beendet ist, dauerte damals bis Weihnachten. Um 2 Uhr morgens wurde aufgestanden und mit dem Flegel gedroschen. Das war eine sehr saure Arbeit. Mit der Wurfschaufel wurde das Korn gereinigt. Diese Arbeitsweise gab es in Spiekershausen noch bis 1905, als sich endlich ein Bauer eine kleine Dreschmaschine anschaffte, die durch 4 Pferde an Treibriemen in Gang gehalten wurde.
Die Kartoffeln wurden mit der Kartoffelgabel oder dem Spaten ausgemacht. Da es noch um diejahrhundertwende keine gezüchteten Kartoffelsorten gab, war die Ernte gering. Jeder Mann hatte bis zum Frühstück nicht mehr als einen Sack voll gelesen, während es heute deren etwa vier sind. Von „schlechten“ Jahren wird berichtet, dass die Leute den ganzen Tag Kartoffeln ausmachten und dennoch nicht mehr als eine Kötze (Kiepe) heimbrachten. Weil die Ernten so klein
waren, konnten die Bauern nicht viel Vieh halten. Pferde gab es nur wenige, Kühe 1 – 2, ein paar Schafe, Ziegen, Schweine, Gänse und Hühner, der Größe des Hofes entsprechend …
Die Ernährung der Bauersleute war sparsam. Am Morgen gab es bei Arm und Reich zum Kaff ee trockenes Brot. Das war eine Sitte, die lange nicht geändert wurde. Um 9 Uhr wurde zum Frühstück Brot und ein wenig Wurst verzehrt. Mittags stand meist „Untergekochtes“ auf dem Tisch, aber es war gut geschmä1zt und bei harter Arbeit auch ein Stück Geräuchertes darin. Am Nachmittag rief die Bauersfrau zum Kaffee oder sie brachte ihn aufs Feld mit Brot. Butter, Schmand und Mus. Die Butter war meist aus Sauerrahm hergestellt. Für die Armen galt Rübölbrot schon als eine Delikatesse. Abends gab es warmes Essen, oftmals Fisch.
Wie die Möbel und Gebrauchsgegenstände im Haus, so war dieKleidung der Bauern einfach, sehr haltbar und schön. Sie glich im Großen und Ganzen der „Schönsteiner Tracht“ aus dem Hessenland.
Die Männer trugen blaue Hessenkittel und darüber einen Ledergürtel. Am Sonntagskittel waren die Schulterstücke, der Stehkragen und der Halsschlitz bestickt. Die Hosen für den Sommer stellte man aus dunklem Leinen knielang her, während sich besonders bei Wind und Wetter Wildiederhosen und Gamaschen als rechte, derbe Kleidung zur ländlichen Arbeit eigneten. Die Schuhe der Leute waren aus Wildleder gearbeitet breit und einleistig. Sie bedeckten die Knöchel nicht. Stiefel kannte man nicht. Die Tracht wurde von den Männern bis etwa 1870, von den Frauen bis um die Jahrhundertwende getragen.
Die Frauen trugen ein kimonoartiges, weißes Leinenhemd, einen weiten Rock aus farbig-gestreifter „Beiderwand“ (ein Faden Wolle, ein Faden Flachs im Wechsel gewebt), darüber ein Mieder, je noch der Jahreszeit aus schwarzer Wolle, kariertem oder einfarbigem Leinen und eine glatte, mattglänzende Schürze, die in der Stadt mit einer Borte und einem winzigen Streublümchenmuster bedruckt war. Zum Schutz gegen die Kälte gab es Strick- oder Wollstoffjacken und Tücher ganz verschiedener Art. Die Strümpfe waren aus Wolle selbst gestrickt. Je jünger die Frau, desto bunter war die Tracht, alte Frauen pflegten sich ganz in schwarz zu kleiden.
Die Herstellung aller Woll- und Leinenkleidung lag in den Händen der Frauen und Mädchen. Sie hielten Schafe und bauten Flachs an; sie spannen, webten, nähten und strickten und sparten dadurch manchen Taler ein. Sehr oft trafen sie sich zur gemeinsamen Arbeit am Abend mit dem Spinnrade in der Mühle. Die Wolle wurde bis Weihnachten gesponnen, der Flachs erst nach Weihnachten.
Aus diesen konkreten Angaben geht hervor, dass die Bauern zur sparsamsten Lebenshaltung gezwungen waren. Nur unter dieser Bedingung konnte es ihnen möglich sein, von ihren Erzeugnissen auf den Markt zu bringen. Eine Erleichterung für ihr Auskommen bildete der Fischfang,ohne den besonders die kleineren Betriebe hätten zugrunde gehen müssen. Die Aalfänge brachten jährlich eine Einnahme von mindestens je 1.000 Mark. In einer Nacht fing man oft zur Hauptzeit der Aalzüge im Herbst und im Frühjahr nach Eisgang 300 bis 400 Stück. Auch andere Fische wurden zentnerweise gefangen, da die Fulda (noch bis 1909) sehr fischreich war.“
So weit Adelheid Schlaefke.
Nahtlos fügt sich hier an, wenn in den Schulunterlagen von 1909 der Lehrer HeinrichWehrbein die „Verhaltnisse der Ortsbewohner“ wie folgt beschreibt:
„Der Ort Spiekershausen hat zurzeit 140 – 150 Einwohner. Da die Bewohner viel mit den Bewohnern in Cassel verkehren, ist die Sprache mehr eine städtische, schöne hochdeutsche. Die Bewohner lieben es, sich städtisch und schön zu kleiden.
Die Confession ist evangelisch-lutherisch. Gern besuchen die Einwohner die Gottesdienste, die sonntäglich zweimal abgehalten werden. Morgens von 10 – 11 Uhr ist Lesegottesdienst; mittags von 12 – 1 Uhr ist Kinderlehre. Die Gottesdienste hat der Lehrer (Küster) zu halten. Der Pastor von Landwehrhagen kommt nur Sonntag nach Weihnachten, am 2. Ostertag, Sonntag nach Pfingsten und jeden 7. Sonntag in der Trinitatiszeit also im Ganzen 6 Mal. Außer den sonntäglichen Gottesdiensten hat der Küster noch Fastengottesdienste in der Fastenzeit – Freitagabend von 7 – 8 Uhr – zu halten.
Dem Ortsvorsteher stehen noch zwei Beigeordnete zur Seite. Bei wichtigen Angelegenheiten tritt stets die ganze Gemeinde zusammen. Der Kirchenvorstand besteht aus dem Pastor zu Landwehrhagen als Vorsitzendem und 4 Kirchenvorstehern. Der Schulvorstand wird vertreten durch den Pastor als Vorsitzenden, den Ortsvorsteher als dessen Stellvertreter, den Lehrer und zwei Schulvorsteher.
Die Hauptbeschäftigung der Einwohner ist Ackerbau und Viehzucht. Da aber die Fulda sehr fischreich ist, so treiben viele Einwohner Fischfang.
Die Fulda hat an der Dorfseite keine hohen Ufer, und hat dieselbe seit Menschengedenken noch keine Menschenopfer gefordert. Aber angeschwemmt kamen früher viel; jetzt bleiben die Leichen entweder vor der Schleuse bei Wolfsanger oder sie werden durch die Strömung auf die linke Seite der Fulda an das Schleusenwehr bei der Mühle, Gemarkung lhringshausen, getrieben. Das Hochwasser hat hier nennenswerten Schaden nie gebracht. Der Besitzer der Mühle musste verschiedentlich seine Wohnung auf kurze Zeit räumen (Im Wohnzimmer ist noch heute – 1994 – die Hochwassermarkierung zu sehen).
Am 25. November 1882 und am 6. Februar 1909 waren Wassertage für Spiekershausen. Da erreichten die Fluten eine solche Höhe wie im Jahre 1842. Da die Fulda jetzt immer tiefer ausgebaggert wird, wird die Hochwassergefahr immer geringer.
Eine größere Anzahl der Bewohner finden lohnende Beschäftigung in der Henschel’schen Fabrik in Cassel; auch liegen Steinbrüche in der Nähe, und Ziegeleien geben Arbeit, so dass Leute, die arbeiten wollen, reichlich Arbeitsgelegenheit finden. Ortsarme gibt es daher hier nicht. Die Mehrzahl der Einwohner ist wohlhabend. Durch die zahlreichen Wirtschaften an der Fulda finden die Landwirte gute Abnehmer von Milch, Eiern, Butter. Ein Liter Milch kostet 20 Pfennige. Die Nahrungsmittel haben hier eine bedenkliche Höhe. Die Nahe Cassels macht alles teuer.
1890 wurde hier ein Kriegerverein (Fahne von 1894) ins Leben gerufen. Derselbe ist zwar klein, aber ist für das Leben in der Gemeinde von großer Bedeutung. Treue Bürger halten fest an Kaiser und Reich. Kaisers Geburtstag, auch wohl Sedan, werden mit der Gemeinde gemeinschaftlich gefeiert. Schon oft fanden unter Leitung des Lehrers Aufführungen, die mit Tanz endeten, statt. Eine solche Feier ist jedenfalls besser als eine Tanzmusik. Auch wurde 1908 ein Turnverein gegründet. Derselbe ist im Wachstum und scheint sich gut zu entwickeln.
Alljährlich findet im Herbst die Kirmes statt. Diese wird gewöhnlich zwei Tage gefeiert. Der erste Tag gilt besonders den Fremden, der Zweite ist für die Ortsbewohner. Die rohe Festfreude, wie ich dieselbe auf anderen Orten gesehen, ist hier nicht. Es ist ein Fest, an dem jeder teilnehmen kann, ohne Gefahr zu laufen, Prügel zu erhalten. 1912 löste sich der Turnverein wieder auf. Es bildete sich ein Schießverein. 1919 und 1920 wurden zu Weihnachten Weihnachtsfestspiele aufgeführt. Die musikalischen Leistungen lagen in den Händen des Kantor Wehrbein. Zu Fastnacht abermals eine Aufführung; die Einnahmen betrugen über 300 Mark. Die Überschüsse kamen Kriegerwitwen zugute.“
Und ein paar interessante Daten wurden von Lehrer Wohlfahrt notiert:
„Am 3.12.1947 wurde ein Viehzählung durchgeführt, die folgendes Ergebnis hatte:
- Pferde 16,
- Rinder 40, davon 18 Milchkühe, 9 Zugkühe, 1 Fürse, 2 Zugochsen, 1 Stier, 9 Jungtiere,
- Schweine 77,
- Schafe 14,
- Hühner 266,
- Ziegen 37,
- Truthühner 6,
- Gänse 40,
- Kaninchen 197,
- Enten 2,
- Bienenstöcke 1.“
„Einwohnerzahl am 15.10.1946:
- Gesamtzahl 407, davon
- 183 männlich
- 224 weiblich
- 50 Evakuierte,
- 56 Flüchtlinge
- Einheimische 74%
- Evakuierte 12,3%
- Flüchtlinge 13,7%
- Bevölkerungsdichte: 256 auf 1 qkm.“
Im März 1994 betrug die Einwohnerzahl insgesamt 713, davon männlich 337 und weiblich 376.
Zur Entwicklung und Veränderung des Dorfes bis 1950 kann ich wiederum wesentliche Fakten und Tendenzen der Arbeit von Adelheid Schlaefke entnehmen. Das verträumte Hänflingsnest verwandelt sein Gesicht nach innen und außen. Durchgreifende Maßnahmen von Seiten des Staates tragen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Verhältnisse bei. In den Jahren 1901-06 werden die Flurbereinigung vorgenommen sowie ordentliche Straßen zum Bahnhof, nach Sandershausen (1909) und Landwehrhagen (1911) gebaut. Es entsteht ein reger Verkehr zwischen Kassel und Spiekershausen, insbesondere durch die Teilnahme der Kasseläner an den dörflichen Festen, die mit besonderer Tradition gefeiert wurden (Himmelfahrt, Kirmes, Erntedank). Es setzt eine rege Bautätigkeit ein. Es entstehen 1 (neues) Schulhaus, 2 Bauernhöfe, 1 bäuerliches Wohnhaus, 14 Wirtschaftsgebäude, 1 Gemeinde- bzw. Armenhaus, 1 Villa, 4 Mietshäuser, 2 Pensionshauser, 2 Tanzsale, 2 Wochenendhäuser, 1 Spritzenhaus und ein Bahnhofsschuppen sowie ein Kolonialwarenladen.
Der Zuzug städtischen Bevölkerung/Stadfflucht und die Loslösung der Spiekershäuser von der landwirtschaftlichen Scholle hin zum Arbeiterberufsstand verändern die dörfliche Gemeinschaft. Durch technische Erneuerungen und die Anschaffung moderner landwirtschaftlicher Maschinen auf genossenschaftlicher Basis wird ein Teil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung nicht mehr gebraucht. Die Einwohnerzahl steigt auf 526. Zu bemerken ist, dass neben den erwähnten Neubauten Umbauten und Erneuerungen der alten Bausubstanz vorgenommen wurden. Der Bedarf an Wohnraum stieg, und so wurden eine Reihe an der Straße liegender Scheunen und Tennen in Wohnhäuser und -räume umgewandelt; ein zweiter Einkaufsladen wurde für die Bedarfsdeckung der Einwohner erforderlich. Die Nähe der Großstadt Kassel machte sich in allen Bereichen bemerkbar.
Alte Traditionen und Bräuche geraten in Vergessenheit. Kleidung, Nahrung, Stil und Einrichtung der Wohnhäuser nehmen städtischen Charakter an. Das eigene Brotbacken z. B. hatte 1932 ein Ende, als im Dorf sogar eine eigene Bäckerei eröffnet wurde; zuvor bestanden 3 Backhäuser.
Ein wesentlicher Teil des alten ging nicht zuletzt verloren durch die Zerstörungen im 2. Weltkrieg: 6 Bauernhöfe und 11 Wohnhäuser wurden teilweise bis auf die Grundmauern zerstört, auch die Kirche blieb nicht verschont.
Quelle: Helga Haeberlin, erstmals veröffentlicht 1994 in der Festschrift zum 675-jährigen Jubiläum der Gemeinde, www.spiekershausen.de